Arbeitgeberverbände Siegen-Wittgenstein

Philosoph Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin zu Gast

Auf Einladung der Arbeitgeberverbände Siegen-Wittgenstein war jetzt Julian Nida-Rümelin zu Gast in Siegen und betonte in seinem Vortrag zum Thema „Freiheit und Verantwortung in Politik und Wirtschaft“ die zentrale Bedeutung von Verantwortung als Grundpfeiler einer funktionierenden Gesellschaft. Verantwortung sei dabei nicht nur eine individuelle, sondern auch eine kollektive Aufgabe, die im Wirtschaftsleben, im Recht und in der Politik gleichermaßen verankert werden müsse. Nida-Rümelin, der sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit schwerpunktmäßig mit Rationalitätstheorie, politischer Philosophie und Ethik beschäftigt, ist einer der profiliertesten Denker zu diesen Themen in Deutschland und war einst Kulturstaatsminister im ersten Kabinett von Gerhard Schröder.

Christian F. Kocherscheidt, Vorsitzender der Arbeitgeberverbände Siegen-Wittgenstein, hatte zuvor bereits eine eindringliche Analyse vorgetragen: „Wir leben in einer Phase, in der Verunsicherung zum Dauerzustand zu werden droht: Energiepreise, die unsere mittelständische Industrie erdrücken. Eine Regulierungsflut, die Vertrauen durch Kontrolle ersetzt. Eine politische Landschaft, die von den Rändern her unter Druck steht – und eine Gesellschaft, die zunehmend zu vergessen scheint, dass Wohlstand kein Naturgesetz, sondern Folge von Leistung, Mut und Zusammenhalt ist.“

Zentral in Nida-Rümelins Ausführungen ist die Sicht auf die Stütz- und Eckpfeiler einer funktionierenden Demokratie: „Wir müssen uns nicht einig sein über die Inhalte. Aber dieses wertvolle, fragile, auf indirekten Freiheitsrechten basierende Konstrukt kann nicht funktionieren, wenn wir uns nicht einig sind über die Regeln des Streits.“ Und Streiten gehört zur Demokratie wie aus unserer Sicht die heutigen Wahlen.

Dabei, so machte Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin im Haus der Siegerländer Wirtschaft klar, hätten die Wahlen gar nicht immer zum Wesen der Demokratie gehört. In der attischen Demokratie als historisches Vorbild für deliberative und partizipative Verfahren habe es beispielsweise ein Losverfahren gegeben, um 501 Geschworene zu bestimmen, die im antiken Athen für Gerichtsverfahren und politische Entscheidungen eingesetzt wurden.

Rückblick auf die Anfänge der Demokratie

So habe die Demokratie nicht nur auf Mehrheitsentscheidungen beruht, sondern auf einer breiten, zufällig gelosten Bürgerbeteiligung als Gegenentwurf zu rein repräsentativen oder plebiszitären Verfahren moderner Demokratien. Ohnehin sei die Demokratie eben nicht dazu da, zu bestimmen, was gut für den Einzelnen ist. Vielmehr gehe es vor allem um die Perspektive der Polis, also der politischen Gemeinschaft. Im Mittelpunkt bei dem renommierten Philosophen steht die Trias „Vernunft – Freiheit – Verantwortung“. Freiheit sei ohne Verantwortung nicht denkbar, die Vernunft wiederum ein Bindeglied zwischen beiden.

Nida-Rümelin sprach sich für einen gemäßigten Ordoliberalismus aus, mithilfe dessen eine Wirtschaftsethik etabliert werden könne, die das Gemeinwohl und nachhaltige Entwicklungen in den Mittelpunkt stellt. Er warnte vor unregulierten Finanzmärkten und betonte die Bedeutung stabiler, demokratischer Rahmenbedingungen für eine funktionierende Marktwirtschaft. Nicht ohne eine gewisse Süffisanz zitierte er den einstigen US-Notenbankchef Alan Greenspan, der mit Blick auf die Finanzkrise der Jahre 2007 und 2008 gesagt hatte: „Ich habe gedacht, die Regeln des Marktes entstehen von alleine.“ Ergebnis dieses Denkens sei eben der Untergang von Lehman Brothers & Co. gewesen, so Nida-Rümelin. Stattdessen sei es wichtige Aufgabe des Staates, Regeln festzulegen, damit der Markt funktionieren kann. Wichtig dabei: „Der Staat sollte nicht selbst als Anbieter fungieren.“

Auch im Bereich der Sozialpolitik bewege man sich in Deutschland zu sehr im Bereich der Transferleistungen und zu wenig im Bereich der Steuerung von sozialen Bedingungen und Regeln.

Entbürokratisierung und Regulierung mit Augenmaß

Im Rahmen der sich anschließenden Diskussionsrunde präzisierte er diese Überlegung vom eingreifenden, aber gleichzeitig auch zurückhaltenden Staat. Auf die Frage, was er von der Entbürokratisierung halte, betonte der Philosoph, dass das Thema nicht gleichzusetzen sei mit „möglichst wenig Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst“. Vielmehr bewiesen die nordeuropäischen Staaten, insbesondere Dänemark, dass eine wesentlich höhere Staatsbediensteten-Quote durchaus für „mehr Ordnung in den Systemen“ sorgen könne. In Dänemark verfolge man dank eines großen Behördenapparates beispielsweise eine harte Immigrationslinie, bei der wenige Ausländer ins Land gelassen würde, hingegen seien die Integrationsbemühungen für die Menschen, die dann auf die Halbinsel kommen, um ein Vielfaches höher als diejenigen in Deutschland.

Vielmehr müsse Entbürokratisierung heißen, dass allzu starre Regeln fallen gelassen würden. Paradebeispiel sei der Datenschutz in Deutschland. Dieser sei wichtig, aber er dürfe nicht dazu führen, dass Wissenschaft, Unternehmen, ja sogar Behörden handlungsunfähig gemacht würden.

Denn eines sei wichtig, damit ein Großteil der Bürger ihre eigene Demokratie auch akzeptieren: „Reden wie die Rechtspopulisten macht die Rechtspopulisten nur stärker. Die Politik der Mitte muss handeln und die Probleme lösen. Dann verschwinden die Rechtspopulisten auch wieder.“ Wenngleich der Referent  durchaus auch ein Verbot der AfD als überlegenswert betrachtete – gerade mit Blick auf die Aussagen Björn Höckes auf Bühnen und in Büchern.

In seinem Fazit, in dem er sechs Thesen herausstellte, erwähnte er explizit auch die Chancen, die sich mit dem System der beruflichen Bildung in Deutschland ergeben. „Es gibt nur ein Land auf der Welt, das ein besseres berufliches Bildungssystem hat als wir – das ist die Schweiz“, so Nida-Rümelin.

Eine weitere These lautete „Deutsche Chancen nutzen“ und passte perfekt zu dem, was eingangs Christian F. Kocherscheidt gesagt hatte: „Es geht um das Selbstverständnis einer Industrienation, die im immer schärfer werdenden globalen Wettstreit nicht durch Regulierung und Planwirtschaft auffällt, sondern durch gute Rahmenbedingungen, Unternehmergeist und Technologieoffenheit punktet.“

Text: Jan Krumnow; Fotos: Kai Osthoff